Oktober – „Die Kraft zur Verwandlung“
Der Oktober bildet als Herbstsaatenmonat den Anfang des altgermanischen Wirtschafts- und
Erntejahres. Er wurde mit Festen eingeleitet, die uns noch als Kirchweih oder Kirmes bekannt
sind.
Im Goldenen Oktober erleben wir die Natur ein letztes Mal in ihrem schönsten Kleid. Doch erahnen
wir auch schon den nahenden Winter. Schwer, müde und beladen wirkt die Pracht und schwebt, wie
die fallenden Blätter, Mutter Erde entgegen. Kastanien säumen den Boden und ihr stacheliger
Panzer erinnert an das Tierkreiszeichen des Skorpions. Morgens wallen die ersten schweren Nebel.
Lichten sich diese und kommt die Sonne durch, entstehen magische, unwirkliche Farbenspiele
zwischen dem Himmelsblau und den Goldtönen der Wälder. Schwere Düfte, der Geruch von Pilzen und
Moder steigt durch die Luft. Das Absterben der Natur ist spürbar. Bei aller Wehmut zeigt sie
sich aber erhaben und erhebend.
Der Oktober birgt einen großen Zwiespalt in sich: Einerseits stirbt etwas, andererseits entsteht
etwas Neues. Diese Spannung schafft gerade in der Kunst eine enorme Antriebskraft. In seiner
herrlichen Pracht erscheint er wie eine Nachahmung des Frühlings und treibt aus eigener Kraft
ein letztes Farbenspiel. Der Oktober mit seinem klaren Licht lässt uns die eigene Wirklichkeit
erkennen und schafft Raum, sich auf die innere Realität zu besinnen.
Bei den Germanen herrschte der Gott Njörd über die Meere und Schiffe. In seiner Himmelsburg
„Noatun" – dem Haus des „Todesdornes“, des „Vor-Sich-Hindämmerns“ und langsamen Entschlafens –
ist das Schiff ein Symbol im doppelten Sinn: als „Todesbarke“ fahren die Seelen der Verstorbenen
in die Unterwelt. Als „Lebensschiff“ geleitet es die Seelen bei ihrer Geburt wieder an die
Oberfläche der Erde, um neu zu inkarnieren.
Eine Sage aus dem ältesten Epos der Welt, dem „Gilgamesch-Epos“, beschreibt, wie die
Frühlingsgöttin Ishtar den jungen Jahresgott Tamudz (im Griechischen: Adonis) so sehr liebte,
dass sie ihm bei seinem Tode in die Unterwelt folgte. Sie musste durch die sieben Tore schreiten
und bei jedem neuen Torwächter eines ihrer sieben weltlichen Insignien abgeben. Zuerst die Krone
als Zeichen der Königin, dann die Ohranhänger, die sie als Mutter auswies (das Ohr galt als das
Symbol für das weibliche Geschlechtsorgan), danach das Halsband als Zeichen der Heirat, es
folgte das Schmuckschild der Brüste, was die Tapferkeit symbolisierte, als fünftes der
Hüftgürtel, die Fruchtbarkeit darstellend und zuletzt das Schamtuch als Zeichen des Lebens, der
Gebärfähigkeit selbst. Sie legte also demütig allen weltlichen Schmuck, alle körperlichen Hüllen
an der Pforte ab, bis ihre göttliche Nacktheit und Reinheit zum Vorschein kam. Dieses Ritual
zeigt, dass nichts Weltliches ins Totenreich mitgenommen werden darf – nur sich selbst und seine
inneren Qualitäten. Nun begann dort der Kampf mit ihren eigenen Schatten. Die zeigten sich in
Gestalt der „dunklen Schwester“ Ereshkigal, der Herrscherin des Totenreiches, die sie in ein
Verließ sperrte. So begann Ishtars „Höllenfahrt“. Doch da sie immer noch die Frühlingsgöttin
war, musste sie nicht für immer dort unten bleiben, sondern feiert jeden Frühling ihre
Auferstehung. So steht Ishtar als Frühling für das äußere Wachstum und das Sammeln weltlicher
Erfahrungen und Ereshkigal als Herbst für den Tod als Erfahrung der äußeren Grenze des Seins.
Doch bringen Verfall und Absterben ein neues Bewusstsein inneren geistigen Wachstums mit
sich.
Im Symbol des Skorpions verbergen sich die höchste Suche nach Spiritualität sowie die Sucht nach
der Überhöhung eigener Macht. Im Herbst muss der Mensch sich wappnen, seinen Schatten zu
begegnen. Wer um die Dunkelheit weiß wird zum Lichtsucher. Wenn seine Schatten erlöst sind, hat
das Wesen des Skorpions größtes Talent zur Hellsichtigkeit. In diesem Zeichen herrschen extreme
Spannungen, die es zu überwinden gilt, damit man sich auf die bedeutsamen Lebensthemen besinnen
kann. Im Herbst mit seiner morbiden Pracht wird unser Bewusstsein auf die Frage von Leben und
Tod gelenkt. Der Skorpion als wehrhaftes, giftiges Tier weist uns darauf hin, dass die
Kernfragen des Lebens viel Energie und Ausdauer sowie gesunder Aggression bedürfen, um die
Tiefen unseres Selbst zu ergründen. Nach alter buddhistischer Tradition heißt es: wer seiner
Lichtnatur gewahr wird, hat an seinen Schatten gearbeitet.
Herbst
Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.
Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.
Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.
Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.
Rainer-Maria Rilke